TATblatt

 

 

Rezension:
Chaika Grossman
Die Untergrundarmee

Im Untergrund

Der jüdische Widerstand in Biaylstok
Ein autobiographischer Bericht

Im Juli 1944 marschierte Chaika Grossman bewaffnet und in sowjetischer Partisanenuniform durch die Trümmer der befreiten ostpolnischen Stadt Byalistok. Sie war eine von sechs jüdischen Frauen, aus der seit der Liquidation des jüdischen Ghettos im August 1943 der politisch organisierte jüdische Widerstand Byalistoks bestanden hatte. Der Großteil der JüdInnen Byalistoks, die auch aus den schon zuvor liquidierten Ghettos in Lodz, Grodno, Wilna und Warschau oder aus den ländlichen Gebieten bzw. den geräumten Schtetln gekommen waren, endete in den Konzentrationslagern, vorrangig in dem von den österreichischen Massenmördern Odilo Globocnik und Franz Stangl kommandierten Vernichtungslager Treblinka.

Byalistok war bei Kriegsbeginn eine sozial und ethnisch stark durchmischte Stadt, in der etwa 120.000 polnische JüdInnen, sowie 60.000 BelorussInnen und weitere 60.000 PolInnen lebten. Es gab enge Kontakte zur Stadt Grodno in Belorussland, zu Wilna in Litauen und nach Warschau, weniger jedoch in das dominant polnische ländliche Umland. Trotz multikultureller Vielfalt war das Zusammenleben nicht immer konfliktfrei. Nachdem es 1920 zu antisemitischen Pogromen gekommen war, organisierten die Byalistoker JüdInnen effektive Selbstschutzorganisationen.

Mit dem Hitler-Stalin-Pakt begann der Untergang des ostjüdischen Lebens. Die deutsche Wehrmacht besetzte 1939 kurzfristig Byalistok, woraufhin alle jüdischen Organisationen illegalisiert wurden, dann rückte die sowjetische Armee ein, und auch unter der kurzen Herrschaft Stalins blieben sie verboten.

Mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Byalistok 1941, bei dem die SS über 2.000 JüdInnen in einer Synagoge lebendig verbrannte, änderte sich die Perspektive der jüdischen Organisationen schlagartig. Grossman war Mitglied des Haschomer Hazair (Der junge Wächter), einer Mitgliedsorganisation der Dachorganisation Hechaluz (Der Pionier), die junge JüdInnen auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitete und sie politisch organisierte. Allerdings beschloss die Untergrundführung von Haschomer Hazair in Wilna mit Kriegsbeginn nicht zu emigrieren, sondern in Polen, Litauen und Belorußland Widerstand zu leisten. Wilna war auch der Geburtsort der Faraynigten Partizener Organizazsje, besser bekannt als F.P.O., in der Haschomer Hazair Gründungsmitglied war.

Schon kurz nach dem Einmarsch wurden von den Deutschen in den Städten jüdische Ghettos errichtet. Die Untergrundführung schickte von Wilna aus Leute, um in diesen Widerstandsorganisationen aufzubauen. Es kam zur Zusammenarbeit von Haschomer Hazair mit anderen jüdischen Organisationen, wie etwa der linkszionistischen Jugendorganisation "Dror" oder Teilen der Arbeiterparteien von "Poale Zion", mit den Monaten auch mit dem kommunistischen Untergrund, polnischen BäuerInnen (die zum Teil individuell halfen) und deutschen Nazigegnern.

Byalistok war ein privilegiertes Ghetto, weil es ein Zentrum der polnischen Textilindustrie und daher für die deutsche Kriegsindustrie lange unverzichtbar war. Die dortigen Betriebe belieferten die Wehrmacht, wofür im Gegenzug bessere Lebensbedingungen im Vergleich zu Lodz oder Warschau geboten wurden. Byalistok wurde als letztes Ghetto in Polen und im Baltikum liquidiert.

Infolgedessen konnte sich der Untergrund länger als in den anderen Ghettos darauf vorbereiten, am Tag der Liquidation bewaffneten Widerstand zu leisten. Außerdem war das Ghetto sehr gut mit Nachrichten versorgt und es war deshalb schon sehr früh bekannt, dass die Abtransporte direkt in den Tod führten. Bei Haschomer Hazair wurde beschlossen, die ganze Energie auf einen Aufstand aller JüdInnen gegen einen Abtransport zu bündeln. Die KommunistInnen verweigerten lange Zeit über eine engere Zusammenarbeit und verlangten fast bis zum Ende des Ghettos, dass der Ghettowiderstand Waffen und sonstige Unterstützung für die PartisanInnen im Wald und nicht für einen Ghettoaufstand organisieren sollte. An den spezifischen Bedingungen der JüdInnen, die tagtäglich die kollektive Vernichtung erlebten, wurde seitens des kommunistischen Untergrundes kaum und von der Armia Kraijowa der polnischen Exilregierung in London überhaupt kein Interesse gezeigt. Erst Tage vor der endgültigen Liquiderung des Ghettos kam es (ohne die AK) zu einer Vereinigung des Widerstandes gegen die Deutschen in Byalistok.

Vor diesem Hintergrund ist die Autobiografie von Chaika Grossman ein sehr seltenes Dokument, und das in mehrerer Hinsicht. Grossman schrieb ihren Bericht 1949 kurz nach ihrer Ankunft in Israel, als die Erinnerungen noch ziemlich frisch waren. Entgegen der meisten Erinnerungsliteratur liegen nicht Jahrzehnte traumatischer Rückblenden und entsprechender psychischer Abspaltungsversuche von Erlebtem dazwischen. Zum damaligen Zeitpunkt war ihr Bericht historische Pionierarbeit, da Arbeiten über die Institution des Judenrates, die bei Grossman aus praktischen Gründen, schlicht weil sie ständig mit dessen Leitung zu tun hatte, breiten Raum einnehmen, erst Jahrzehnte später erschienen. Die Aktionen, die Leichenberge und die Zerstörung sind lebendig, nicht durch historische Erkenntnisse und kulturelle Wiederbelebungsversuche in Exilländern gemildert. Die menschliche Größe, einen Bericht über die Vernichtung der eigenen Kultur und des eigenen Volkes mit den Sätzen "... die Toten werden sich nicht aus ihren Gräbern erheben. Wir sind zu wenige, um das Gedächtnis so vieler zu bewahren" enden zu lassen, ist nachträglich kaum nachvollziehbar.

Falls Interesse besteht, aus Geschichte doch etwas zu lernen, womit hier die Möglichkeiten und Bedingungen von Widerstand gemeint sind, ist der Bericht von Grossman wohl denkbar bester Anlass dazu. Grossman lebte in einer sozial sehr kompetenten Umgebung. In Polen beherrschten zahlreiche JüdInnen aus der Stadt mindestens zwei Sprachen, nämlich Jiddisch und Polnisch, sowie je nach Bildungsgrad und Umgebung Hebräisch, Litauisch, Russisch oder Deutsch, manchmal auch eine westeuropäische Sprache dazu. Sie waren gewohnt sich in häufig sehr stark wechselnden Umgebungen zu bewegen, die ihnen zum Teil feindlich gesinnt waren. Eine der beiden Vorgängerorganisationen von Haschomer Hazair, die zionistische MittelschülerInnenorganisation "Zeirei Zion", entstand 1903 in Galizien, strebte nach Selbstbildung in jüdischem Wissen und wurde wegen der allgegenwärtigen Repression in polnischen Gymnasien vor Ort illegal in Zirkeln organisiert bzw. trat nur überregional offiziell auf.

Viele Mitglieder des jüdischen Untergrundes in Byalistok waren deshalb gut in der Lage soziale und territoriale Grenzen zu überwinden, sofern sie nicht zu "jüdisch" aussahen. Jüdinnen arbeiteten bei Gestapo-Dienststellen, in Haushalten von hochkarätigen Nazis, reisten ohne oder mit gefälschten Papieren über zahlreiche Grenzen zwischen den besetzten Ländern und schmuggelten laufend in und aus und zwischen den Ghettos. Es gelang auch, ein Mitglied von Haschomer Hazair in die jüdische Ghettopolizei einzuschleusen. Erster Schritt war stets das Annehmen einer zweiten Identität, in den ersten Monaten der Besetzung wurden praktisch ausschließlich Dokumente gefälscht und Wohnungen organisiert. Grossman vermittelt anschaulich die unbedingte Notwendigkeit und die alltäglichen Schwierigkeiten sozial unterschiedlich definierte Räume zu betreten und zu verlassen. Die verwendeten Begriffe von "arischer Seite" und "Ghetto", "polnischer Wohnung", "deutscher Zug" in Gegensatz zu "polnischem Zug", sowie den unterschiedlichen Gegenübern von Ghettopolizei zu Gestapo über Wehrmacht, SS und ukrainischer bzw. belorussischer Hilfs-SS, polnischer Polizei und deutscher Gendarmerie, alle mit anderen Ansprüchen und Vorurteilen, den Gefahren des polnischen Antisemitismus und der oft harmlosen weil ahnungslosen Judenfeindlichkeit deutscher Besatzer, zeigen viel über die Zergliederung von Räumen. Es ist dies eine verdichtete Erfahrung von sozialer Kontrolle und kontrollierter Desorganisation durch allgegenwärtige Bürokratie, die für jeglichen Untergrund von entscheidender praktischer Bedeutung ist. Nur wer soziale Grenzen so überwinden kann, dass keine offensichtlichen Widersprüche für Dritte erkennbar sind, hat mit illegaler Tätigkeit eine Chance.

Eine weitere offensichtliche politische Grundsatzfrage ist jene nach der Einbindung von Minderheiten in einen größeren Kontext, die sich bezogen auf diesen Fall eindeutig beantworten lässt. Während Haschomer Hazair und andere Gruppen der Antifaschistischen Front in Byalistok eindeutig positiv Bezug auf die Sowjetunion nahmen, lehnte die KP eine Organisierung in Richtung Widerstand des Ghettos zur Verhinderung der Massenvernichtung der JüdInnen sehr lange Zeit als illusorisch ab und zeigte an den spezifischen Bedingungen der JüdInnen kaum Interesse bzw. kein Verständnis, weil es schlicht nicht in die ideologische Perspektive passte. Selbst als das Ghetto liquidiert worden war, kann von einer solchen Politik gesprochen werden. Überlebende JüdInnen gingen in den Wald und verstärkten ab 1943 die dort noch ziemlich autonom agierenden PartisanInneneinheiten bzw. bildeten dort jüdische Gruppen. Als 1944 die Rote Armee im Vormarsch war, besserte sich zwar die materielle Lage der zum Teil verhungernden jüdischen PartisanInnen, zugleich wurden die jüdischen Einheiten jedoch zwangsaufgelöst. Den im nunmehr arisierten Byalistok im Untergrund arbeitenden jüdischen Frauen wurde davon nichts erzählt, obwohl sie laufend Kontakt zu den kommunistischen Kommandeuren der PartisanInnen hatten und den Wald ständig unterstützten. Mit Kriegsende hatte zwar der antifaschistische Widerstand gesiegt, aber der jüdische Widerstand war als eigenständige organisatorische Einheit durch Zwangsassimilation nicht mehr existent.

Heutige AktivistInnen mit sogenannten Randthemen und sozial wenig akzeptierten Minderheitenpositionen, die mit von Mehrheitslinken vordefinierten Aktionsfeldern bzw. mit hegemonialen Bastionen ("Volksfront", "fortschrittliche Kräfte", "Antifaschisten" im Gegensatz zu "alle anderen sind Faschisten" und ähnlichen Diktionen) konfrontiert sind, können aus diesem historischen Ereignis den Schluss ziehen, dass der Orientierung auf die Mehrheit unweigerlich die Auslieferung oder zumindest die Akzeptanz des Unterganges der Positionen der Minderheit folgt. Dies kann wohl auch im Bezug auf Österreich so gesehen werden. Die Geschichte der österreichischen Linken ist auch eine von Entrechtung und der Förderung des Unterganges von Minderheitenpositionen. Otto Bauer meinte beispielsweise: "Aus dem jüdischen Proletarier muss ein wirklicher moderner Arbeiter werden. Sobald der Jude dies ist, ist ein schweres Hindernis für seine Verbreitung auf weitere Gebiete und Produktionszweige gefallen. Ein solches Hindernis ist nicht etwa die besondere Sprache der Juden, sondern ihr ganzes Wesen. In vielen Betrieben dulden heute die christlichen Arbeiter keine jüdischen Arbeitskollegen.".

Abweichung als moralischer Defekt, wie ihn eine vom Austromarxismus der Vorkriegszeit in eine hegemoniale Sozialdemokratie unter Kreisky übergeleitete Linke mit ihren an wohlfahrtsstaatlichen Mehrheitspositionen orientierten Splittergruppen im Anhängsel seit jeher und bis heute vertritt. Historisch gegen das Frauenwahlrecht, weil Frauen ohnehin mehrheitlich konservativ wählen würden und das ein Nebenwiderspruch sei, hin zur KünstlerInnenfeindlichkeit, sofern sich diese nicht in die Wahlmaschinerie einbauen lassen, weiter zur Diffamierung der Anti-Atom-Bewegung der 70er-Jahre (Stichwort reaktionäre Kräfte) und dem ewig gleichen Faschismusvorwurf gegen die Ökobewegung der 80er-Jahre bis letztlich zu den neuen Feindbildern in Kultur und Politik der Gegenwart und der permanenten Gängelung bis Unterdrückung der autonomen Frauenbewegung.

Die Folgen dieser an einem Mehrheitskonsens orientierten Realpolitik sind unmittelbar und einsehbar: Anti-Regierungs-Parolen, die von AusländerInnen ignoriert werden, obwohl diese sich keineswegs fürchten, etwa im Fall von KurdInnen, eigene Demos zu veranstalten. Demos, auf denen Funktionäre der Sozialistischen Jugend "Anarchisten hängen" rufen , da deren Aktionsformen nicht ins politische Konzept passen. Weiters in denunziatorischer Form öffentlich geführte Diskussionen zwischen linken Kleingruppen und aus diesen stammenden Einzelpersonen, die einander mit obskuren Vorwürfen überhäufen, gespickt mit Namenslisten und Hinweisen auf Querverbindungen und Aufrufen zur Ausgrenzung, an denen wohl nur die Staatspolizei größeres Interesse haben kann.

Zwischen den Minderheiten und den Mehrheitspositionierten liegen auch in der Gegenwart Erlebniswelten. Es überrascht nicht, dass AusländerInnen mit den Postulaten der vom Staat beschützten österreichischen AktivistInnen des "fortschrittlichen Österreich" und Forderungen an einen gütigeren Sozialstaat wenig anfangen können und in diversen Vereinen Selbstverteidigung und Kollektivität lernen, falls sie es nicht schon in der Heimat konnten. Auch die Israelitische Kultusgemeinde veranstaltet in Zeiten neuer Antisemitismuswellen Karate-Kurse für Erwachsene als Selbstverteidigung, was an die Jüdischen Boxklubs der Zwischenkriegszeit als Schutz vor Angriffen der SA anknüpft, um nur ein Anzeichen der Unterschiede und von Bedarf im alltäglichen (Er)leben von verschiedenen sozialen Gruppen zu nennen.

Allerdings sind diese Unterschiede zum anderen sicher nicht als Bestätigung für die Taktik der Diffamierens gegen alle und jeden durch sektiererische Minigruppen anzusehen; das läßt sich auch aus dem historischen Kontext bei Grossman nicht ableiten.

Die Folgerung kann sein, letztlich abstrakte Diskurse zu meiden, aus der Geschichte fleißig zu lernen, bestimmte organisatorische Notwendigkeiten für die Durchführung von Aktionen zu erkennen und sich unabhängig zu organisieren.

Chaika Grossman
Die Untergrundarmee
554 Seiten
Frankfurt/Main 1993
Fischer Taschenbuch Verlag
ca. 150,- öS

aus TATblatt +158, S. 8 

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