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Österreich ist allen ernstes unverbesserlich!
"Ritualmord"-Urteil von 1901 heute noch mit Rechtskraft

Begnadigung klingt gut in den Ohren von Menschen (wie etwa jenen in der TATblatt-Redaktion), die ein wahrnehmbar gestörtes Verhältnis zu jeder Form von Staatsgewalt haben: Am 11. Juni 2001 jährte sich zum hundertsten Mal die Begnadigung des Schustergesellen Leopold Hilsner durch Kaiser Franz Josef. Nichts desto trotz gibt es in Österreich noch immer ein aufrechtes Urteil, das auf Grund des Vorwurfs eines "Ritualmordes" gefällt wurde. Für dessen Aufhebung fühlt sich in Österreich kein Mensch zuständig...

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Am Abend des Karsamstag 1899 wurde in Polna, einer kleinen Stadt zwischen Praha und Brno, die Leiche einer 19-jährigen jungen Frau mit auffallend langem Schnitt am Hals gefunden. Schnell verbreitete sich das Gerücht, die junge Frau wäre einem "Ritualmord" zum Opfer gefallen. Ein Schuldiger war schnell gefunden: Der jüdische Schustergeselle Leopold Hilsner...

Hilsner wurde noch 1899 unter unfassbaren Umständen wegen "Ritualmordes", für den das österreichische Strafgesetzbuch als einziges in Europa einen eigenen Paragraphen vorgesehen hatte, zum Tode verurteilt: ZeugInnen wurden eingeschüchtert, wenn sie Hilsner entlasteten und erhielten Bonifikationen für Aussagen, die den Schustergesellen der Tat beschuldigten. Der Hauptbelastungszeuge erinnerte sich in einer zweiten Gerichtsverhandlung im Jahr 1901 an Details der Tat, die er unmittelbar nach der Festnahme Hilsners zu erwähnen "vergessen" hatte. Das Urteil erster Instanz wurde vom Kassationsgericht in Wien bestätigt.

Auf Anordnung des Justizministeriums musste das Verfahren - es war ganz offensichtlich unfair geführt worden - wiederholt werden und endete neuerlich mit der Verhängung eines Todesurteils gegen Hilsner wegen "normalen" Mordes. Auch dieses Urteil wurde von Kassationsgericht bestätigt.

Proteste aus Frankreich...

Das Urteil gegen Hilsner erregte internationales Aufsehen. Zwar waren seit 1860 in der Donaumonarchie weit über dreißig Mal Menschen wegen "Ritualmordes" vor Gericht gestanden, doch nur Hilsner war auch verurteilt worden. Insbesondere aus Frankreich trafen - was angesichts der Erfahrung mit der Affäre Dreyfuss weiter nicht verwundern sollte - Protestnoten in Wien ein und hinterließen ihre Spuren bei Hof. Sie gaben Franz Josef I., über den es außer der (allerdings sehr wesentlichen) Tatsache, dass er Antisemitismus glaubhaft verachtete und diesem oftmals und mit Bestimmtheit entgegentrat, nicht viel Gutes zu sagen gibt, die Gelegenheit, das Todesurteil gegen Hilsner am 11. Juni 1901 in lebenslange Haft umzuwandeln.

...aber kein österreichischer Emile Zola

Ein österreichischer Emile Zola jedoch fand sich nicht: Die österreichische Intelligenz, darunter auch Sigmund Freud oder Gustav Mahler, verschwiegen sich einfach zum Fall Hilsner. Karl Kraus war von Hilsners "Schuld" überzeugt. Einzig der spätere Staatsgründer der Tschechoslowakei Tomas Masaryk setzte sich für Hilsner ein, ...und verlor in der Folge seinen Lehrstuhl an der Prager Karls-Universität. Unterstützung fand Hilsner noch durch den Rabbiner von Floridsdorf Josef Samuel Bloch, der jedoch allein keine Neuaufnahme des Verfahrens erreichen konnte.
Leopold Hilsner wurde im Frühjahr 1918 begnadigt und nach 19 Jahren aus der Haft entlassen, in die er ohne Existenz auch nur eines Indizes für seine Verwicklung im Mordfall und nur auf Grund seiner Religionszugehörigkeit gekommen war. Er starb 1928 in Wien.

Ritualmord

Der Vorwurf, so genannte Ritualmorde zu begehen verfolgt Menschen jüdischer Religionsgehörigkeit seit bald eintausend Jahren. Der erste Fall eines Pogroms auf Grund des Vorwurfs eines Ritualmords wurde 1171 dokumentiert. Der Vorwurf selbst begründet sich in völlig verdreht interpretierten Zeilen des Matthäus-Evangeliums (27. Kapitel, Verse 24/25), in denen es heißt: "Als aber Pilatus sah, daß er nichts ausrichtete, sondern vielmehr ein Tumult entstand, nahm er Wasser, wusch seine Hände vor der Volksmenge und sprach: Ich bin schuldlos an dem Blute dieses Gerechten; sehet ihr zu. Und das ganze Volk antwortete und sprach: Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder!"

Gute ChristInnen vs. verstockte, blutrünstige JüdInnen?

Die Intention des Matthäus, den Glauben an das Messias-Dasein des Jesus von Nazareth mit dieser unhistorischen Szene hervorzuheben, um dem Christentum, das zur Zeit von Matthäus nichts anderes als eine von vielen jüdischen "Sekten" war, endgültig vom Judentum als Religion zu lösen und damit die Eigenständigkeit unter Beweis zu stellen, wandelte sich über tausend Jahre zur Schuldzuweisung an "die Juden", die wider besseren Wissens den Messias ans Kreuz geliefert haben sollen. In Kenntnis ihrer Schuld sowie zur regelmäßigen Erneuerung ihrer Gemeinsamkeit würden JüdInnen daher (die für das Christentum erstaunlicherweise im Mord an einer Person liegt, die für JüdInnen nicht einmal existiert hat) zu Pessach das Blut "unschuldiger" ChristInnen, gemeint sind Kinder und "Jungfrauen", vergießen. Die Konstruktion des "Ritualmords" ist die logische Konsequenz aus einem Grunddilemma des Christentums an sich: Anders als die Heiden, die ja noch nicht die Gelegenheit hatten, den einzig wahren Gott (und dessen Sohn) zu erkennen, weigerten sich die JüdInnen und Juden, den Messias, der ihnen in der Schrift vorhergesagt wurde, als solchen zu erkennen. Wenn es jedoch Jesus von Nazareth als Sohn des einzig wahren Gottes und Erlöser der Menschheit gegeben hat, so müssen doch jene, die sich trotz besseren Wissens dieser Tatsache verschließen, doch ganz besonders schlechte, verstockte Menschen sein. Aktualität hat der Ritualmordwahn bis heute nicht verloren: Es dauerte bis Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts und bedurfte eines Machtwortes des Bischofs von Tirol Reinhold Stecher, um die antisemitische und auf Ritualmordwahn beruhende Verehrung des Anderl von Rinn zu beenden... Und die "Merkmale" des Konstrukts "Ritualmord" - im Fall Leopold Hilsner ein von den ProtagonistInnen des Vorwurfs an das Schächten von Tieren angelehnter länglicher Einschnitt am Hals der Ermordeten sowie die Fastenzeit - emotionalisieren bis heute: Wie anders ist zu erklären, dass gerade am Karfreitag dieses Jahres in Oberösterreich in verschiedenen Lokalzeitungen ein Inserat gegen das Schächten von Tieren geschalten wurde...?

Traum und Wirklichkeit: Antisemitismus als Normalzustand

Die Konstruktion des Ritualmords war Ende des 19. Jahrhunderts, also zu Zeiten, wo in Frankreich oder den USA bereits ein für alle Menschen gültiger Grundrechtskatalog vorlag, in Österreich noch tief verankert. Sie erlebte geradezu eine Renaissance: Karl Lueger erging sich als Bürgermeister von Wien in übelster antisemitischer Hetze, die Christlich-Soziale Partei legte Wert auf einen eigenen Juden-Paragraphen in ihrem Parteiprogramm und der Währinger Pfarrer August Deckert publizierte antisemitische Schriften wie etwa die Hetzschrift "Ein Ritualmord - aktenmäßig nachgewiesen" (Wien 1893). In dieser Stimmung mag es für Angehörige der liberalen Intelligenz tatsächlich bedrohlich gewesen sein, für `irgendeinen daher gelaufenen Schustergesellen´ Partei zu ergreifen...

Was die Tschechische Republik kann...

Nicht hinzunehmem ist jedoch, dass dieses Zeichen tiefster, mittelalterlicher Barbarei im Österreich von heute noch gültig ist: Es ist der Aktivität eines Privatmanns zu verdanken, dass die Tschechische Republik die erstinstanzlichen Urteile gegen Hilsner 1998 aufgehoben hat. In einem eigens dafür vom Justizministerium in Auftrag gegebenen Gutachten, das inzwischen auch als Buch (in tschechischer Sprache) erschienen ist, wird dazu ausgeführt, dass die Zuständigkeit für die Urteile des Kassationsgerichts mit dem Vertrag von St. Germain 1919 auf Österreich übergegangen sei, die Republik Tschechien die höchstgerichtlichen Urteile daher nicht rechtswirksam aufheben könne. Dafür sei eben Österreich zuständig.

Zum selben Ergebnis kommt ein italienischer Staats- und Völkerrechtler in einem mehr als zwanzigseitigen Gutachten. Ausschließlich die RepräsentantInnen der Republik Österreich wollen keine Chance und keinen Grund sehen, die Urteile gegen Hilsner aufzuheben:

...kann Österreich noch lange nicht!

Alle Versuche, österreichische Verantwortliche für die Aufhebung des Hilsner-Urteils zu gewinnen, scheiterten bisher an Umständen, die bestenfalls als skurril angesehen werden können. Nach Ansicht des Justizministeriums ist etwa der Oberste Gerichtshof im Jahr 1919 "an die Stelle des ehemaligen österreichischen Obersten Gerichts- und Kassationshof getreten" und "somit eine neue Staatseinrichtung und keineswegs eine vom neuen Staat übernommene Behörde der früheren Monarchie ... Auch aus der Befassung des Obersten Gerichts- und Kassationshofs mit der Strafsache gegen Leopold Hilsner kann daher eine weitere Zuständigkeit der österreichischen Behörden nicht abgeleitet werden." Dazu kommt noch, dass eventuell vorhandene Akten - wobei die grundsätzliche Zuständigkeit Österreichs als im Vertrag von St. Germain ungenau geregelt dargestellt wird - nach der Machtübernahme der NationalsozialistInnen nach Leipzig überführt worden sein sollen (was entsprechende Archive in Leipzig verneinen), die Auffindung der Akten daher unmöglich sei.

Gesichert ist jedoch das Vorhandensein jener 45 Aktenbände, auf Grund derer Franz Josef den verurteilten Leopold Hilsner im Jahr 1901 begnadigt hatte. Es erstaunt daher, dass die österreichische Bürokratie soviel Energie aufwendet, um die Aufhebung eines offensichtlich unter menschrechtswidrigen und unfairen Bedingungen zu Stande gekommenen rassistischen Urteils zu verhindern. Welche Gründe es dafür geben mag, ist unerheblich: Es ist schlicht und einfach zum Kotzen...!

Postscriptum: Welche Wichtigkeit hat die Aufhebung des Urteils gegen Leopold Hilsner? Nun ja: Wie bereits im Beitrag dargestellt ist es vor allem der Hinweis auf die antisemitische Grundstimmung, die in der k.u.k.-Monarchie und insbesondere in Wien geherrscht hat eine Voraussetzung für das Verständnis des Nationalsozialismus in Österreich und seiner Verbrechen. Darüber hinaus gibt es Parallelen zur Gegenwart, die hundert Jahre allein nicht zu verdecken vermögen: Im November 2000 fand im Aktionsradius Augarten in Wien (>>>www.aktionsradius-augarten.at) eine Informationsveranstaltung zum Schicksal von Leopold Hilsner statt. Die Veranstalter hatten den Tag - nicht unzutreffend - Marcus Omofuma gewidmet!

aus TATblatt Nr. +167/168 vom 15. Juni 2001
 
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