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Ein trauriges Jubiläum mit positivem Ausklang

M.B.

In Favoriten stehen zwei Gebäude, an denen täglich viele Menschen achtlos vorbeihasten. In einer dieser Bauten, Ecke Quellenstraße/Leibnizgasse, ist ein Schuhgroßmarkt untergebracht. In der Wielandgasse, Ecke Gudrunstraße steht ein zweites Gebäude, das "berüchtigte" Ernst-Kirchweger-Haus. Beide Bauten waren einmal tschechische Schulen, aber das wissen heute nur die alten Wiener TschechInnen.

Das Haus in der Quellenstraße war überhaupt die erste tschechische Volkschule in Wien (eröffnet 1883, elf Jahre nach der Gründung des Schulvereines "Komenský"), das heutige Kichwegerhaus war die modernste Hauptschule des 10. Bezirkes (eröffnet 1932).

Jedem, der sich mit den Volksgruppen beschäftigt, ist klar, daß die Schulfrage für jede nationale Minderheit oder Volksgruppe von entscheidender Bedeutung ist. Denn diese Gruppen können dem Sog der Bevölkerungsmehrheit nur dann widerstehen, wenn sie kulturell imstande sind, Gleichwertiges entgegenzusetzen. Deshalb der jahrelange Kampf um Volksgruppenrechte, um ein tschechisches Schulwesen, angeführt vom Schulverein "Komenský" (Gegr.1872). Mit Sammlungen in Böhmen und Mähren während der Monarchie, später mit offizieller Unterstützung aus der ?SR und durch aufopferungsvolle Arbeit der Volksgruppen-Angehörigen und ihrer Vereine, ist es gelungen, ein mustergültiges tschechisches Schulwesen in Wien aufzubauen.

Der Höhepunkt wurde 1933 erreicht. Insgesamt wurden vom Schulverein "Komenský" in diesem Jahr auf allen Schulstufen (Kindergärten, Volks- und Hauptschulen, Gymnasium und Realgymnasium, einer Handelsschule, einer Fachschule für Frauenberufe und schließlich auf zwei slowakischen Sprachschulen) in Wien 3.679 SchülerInnen unterrichtet. Dazu kamen 9 Sprachschulen in der Umgebung Wiens mit 528 SchülerInnen. Die Kurse der Fachschulen wurden von 216 Schülern besucht. Das ergibt eine Gesamtzahl von 4423 Schülern. Von den ursprünglich 15 öffentlichen Schulen existierten 1932/33 nur noch zehn mit 841 Kindern. Insgesamt gab es in Wien und Umgebung 5264 tschechische SchülerInnen!

In den folgenden Jahren wurde noch ein tschechischer Schulpalast, das Realgymnasium auf dem Sebastianplatz im 3. Bezirk eröffnet. Die politische Lage wurde immer kritischer. Von deutscher Seite gab es starke Gegenpropaganda, man drohte mit Entlassungen und Delogierungen, eingeschüchterte Eltern nahmen ihre Kinder aus den tschechischen Schulen wieder heraus. Im Oktober 1935 wurde schon der vierte Fall eines Überfalls auf tschechische Schulen registriert (vor allem wurden Fenster eingeschlagen). Am 26. Februar 1938 wurde in der Wiener Staatsoper die schon einmal abgesagte Oper "Dalibor" von Smetana in Anwesenheit des tschechischen Unterrichtministers aufgeführt. Es war die Ruhe vor dem Sturm. Am 12.März kreisten bereits deutsche Flugzeuge über Wien. Schulen und Fabriken blieben geschlossen, und in Linz sprach Adolf Hitler.
Die "Goldene Ära" des tschechischen Schulwesens war damit zu Ende.

Den Funktionären der Minderheit gelang es vorerst aber, für die Volksgruppe einen ertr"glichen modus vivendi mit den neuen Machthabern auszuhandeln, aber diese trügerische Ruhe dauerte nicht sehr lang. Im Sommer 1940 wurde die tschechische Realschule in Ottakring von der Wehrmacht besetzt und in ein Lazarett umgewandelt. Für die Überwachung des Schulunterichts wurden ein Direktor und ein Deutschlehrer, beide Nazis, eingesetzt. Im Jahr 1941 gab es die letzten Maturaprüfungen des Gebutsjahrgangs 1922. Im Juli 1941 wurden durch einen Erlaß der Naziämter alle tschechischen Schulen geschlossen und von NS-Organisationen und Wehrmacht für ihre Zwecke benützt.

Da sich die überwiegende Mehrheit der Volksgruppenangehörigen und ihrer Organisationen in einem doppelten Gegensatz zu den Nazis befand, nämlich in ideologischer und nationaler Hinsicht, entstanden auch tschechische Widerstandsgruppen. Die größte und aktivste Widerstandsgruppe der Wiener TschechInnen war die "tschechische Sektion der KPÖ", in der auch NichtkommunistInnen mitgekämpft haben. Am 6.November 1941 wurden zwanzig ihrer Mitglieder im KZ Mauthausen hingerichtet. Am Gebäude Ecke Quellenstr./Leibnizgasse hängt eine Gedenktafel mit den Namen aller von den Nazi ermordeten Wiener Tschechen, auch in Mauthausen und auf dem Wiener Zentralfriedhof steht seit 1947 ein Denkmal.

Es folgten Verbote und Auflösungen der tschechischen Vereine, wobei sicher der 18. Feber 1942 einer der traurigsten Tage für die Volksgruppe war. Auf dem Morzinplatz, dem Sitz der Gestapo, wurde den leitenden Funktionären der Volksgruppe mitgeteilt, daß der Schulverein "Komenský" aufgelöst wird und sämtliches Barvermögen dem Staat zufällt.

Gleich nach Kriegsende wurden mit großer Begeisterung einige tschechische Schulen wieder aktiviert, aber der Optimismus wurde bald dadurch gedämpft, daß etwa 25.000 Wiener TschechInnen in die befreite ?SR gingen, um in ihrer "alten Heimat" beim Wiederaufbau zu helfen.

Heute gibt es nur mehr eine einzige Schule, das ehemalige Realgymnasium im 3. Bezirk, die den Kindergarten, eine Volks- und Hauptschule sowie die Unterstufe der zweisprachigen Mittelschule beherbergt. Am 23. Juni 2001 fand hier die Gedenkkundgebung zum 60. Jahrestag der Schließung aller tschechischen Schulen in Wien statt. Von autorisierter Seite erfuhren die Teilnehmer aus Wien und der Tschechischen Republik, daß auf allen Schultypen 260 Kinder unterrichtet werden und daß, sollte dieser positive Trend weitergehen, etwa in drei bis vier Jahren die nächsten Maturaprüfungen stattfinden werden.
 

aus TATblatt Nr. +169 vom 29. Juni 2001
 
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