In Redensarten, TV-Serien, Zeitungen, Werbung etc. wird stets der Zusammenhang wiederholt, daß nur jene glücklich sind, die gesund sind - und schön. Alle drei Eigenschaften sind streng genormt. Jene die diesen Normen nicht genügen können (oder wollen), werden ausgegrenzt und gedemütigt, versucht der Norm anzupassen, oder es wird gar ihr Leben bedroht. Auf jeden Fall wird Behinderung, d.h. ihr Leben mit Leid gleichgesetzt.
Udo Sierck (der seit Jahren in der emanzipatorischen Behindertenbewegung und als Publizist tätig ist) beschreibt es folgendermaßen: " Wenn ich sage, `Behindert-Sein ist schön, glauben alle: Der meint das nicht im Ernst. Ich habe zwei Möglichkeiten zu reagieren. Erwidere ich, der Satz sei lediglich eine Provokation, atmen alle auf und fühlen sich in ihrem Denken und Handeln bestätigt. Beharre ich aber zweitens auf der Bedeutung der Aussage, glauben alle das sei jetzt die Fortsetzung der Provokation, atmen auf, und fühlen sich in ihrem Denken und Handeln bestätigt."(Sierck, S. 43)
Autoversicherungen warben in der BRD in den 70er Jahren für die Anschnallpflicht und machten mit ihrem Slogan die allgemein akzeptierte diskursive Verknüpfung von Leid und Behinderung überdeutlich. Der Werbespruch lautete: "Verkrüppelt für den Rest des Lebens zu sein, ist schlimmer als tot." Demnach kann das Leben Behinderter keinen Wert haben; dieser Satz ist Gewalt.
Diese Behindertenfeindlichkeit findet sich auch in gutgemeinter politischer Agitation, bei der es eigentlich gar nicht um dieses Thema geht. Es wird automatisch von einem Bild Behinderter ausgegangen, bei dem die/der Behinderte im besten Fall nur bedauert wird. Vor ein paar Jahren beinhaltete eine antirassistische Plakataktion des Krankenanstaltenverbundes den Spruch: "Gesundheit verbindet", wobei auf die verschiedenen Herkunftsländer der im Gesundheitswesen Arbeitenden verwiesen wurde. Implizit drängt sich bei dieser Formulierung eine Frage, oder gar eine Botschaft auf: ...und Krankheit trennt?! Auch vor der Ökologiewegung macht das Sinnbild der Behinderung als 'Übel' nicht halt (1), weil öfters mit Behinderung als abschreckende Folge von Kernenergie und Chemieindustrie argumentiert wird. "Behinderte Menschen bekommen die Funktion der Elendsmuster, der Abschreckungskrüppel."(Sierck, S. 46)
Was als Glück erfahren wird, orientiert sich an streng genormten Körper- und Verhaltensformen. Jene die diesen Normen nicht entsprechen, müssen demnach zwangsläufig unglücklich sein. Der australische Vorkämpfer für Eugenik und ärztliches Töten Peter Singer spricht die Konsequenz dieses Denkens aus: "Es gibt Fälle in denen es besser ist, z.B. für ein schwerstbehindertes Kind, daß das Kind nicht lebt, weil das Leben ist so voll mit Leid, ohne Gelegenheit für eine bessere Situation, so daß es wirklich besser ist, wenn das Kind stirbt. (...) Die Eltern können vielleicht ein anderes Kind haben mit viel besseren Chancen, ein gewöhnliches und glückliches Leben führen."(Sierck, Danquart S. 120/122)
Behinderung ist demnach etwas Unerträgliches, das es eigentlich nicht geben dürfte. Wenn es aber doch existiert, so sollen wenigstens Nichtbehinderte von dessen Anblick verschont bleiben. "Es ist nicht zu verkennen, daß eine Gruppe von Schwerstbehinderten bei empfindsamen Menschen eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses darstellen kann. Daß es Leid auf dieser Welt gibt, ist nicht zu ändern, aber es kann der Klägerin nicht verwehrt werden, wenn sie es wenigstens während des Urlaubs nicht sehen will."(Bonfranchi, S. 56) Dieses Zitat ist einer Urteilsbegründung aus Frankfurt 1980 entnommen, wobei für eine Klägerin entschieden wurde, die von einem Reiseunternehmen Schadensersatz forderte, weil im gleichen Hotel wie sie, behinderte GästInnen ihren Urlaub verbrachten. (Ein ähnliches Urteil wurde 1992 in Flensburg gefällt.) 1994 wurde ein behinderter Urlauber in Aufkirchen (BRD) aus einer Pension geworfen, da seine Behinderung nicht in einem "zumutbaren Rahmen stehe" und geschäftsschädigend wirke.(randschau 4/94, S. 5)
Weiter in dieser Gewaltlogik: Behinderung ist nicht zumutbar, weil sie nicht als schön gilt. Bis heute ist das platonische Ideal des Schönen wirksam. Demnach ist schön, was dem rechten Maß, der Proportionalität und Harmonie gehorcht. Körperbilder des Schönen spiegeln auch heute noch die Ideale der klassischen griechischen Plastik wieder. Obwohl dieses Ideal selten und vor allem nicht dauerhaft erreicht werden kann, bleibt es als Maßstab erhalten. In diesem Koordinatensystem des ästhetischen Empfindens wird Behinderung der Häßlichkeit zugeordnet. "Das Häßliche als Negation des Schönen, schmerzt und verletzt unser Empfinden."(Bonfranchi, S. 59) Wir verwehren uns dem angeblich Häßlichen. Es soll ungeschehen gemacht werden, da es uns ans Altern, die eigene Unvollkommenheit, den Tod erinnert. Daraus können auch Todeswünsche gegen Behinderte entstehen.
Diese stigmatisierende Beurteilung von Behinderung wird in einem weiteren Gerichtsurteil (Köln 1997) deutlich. Demnach wurde entschieden, daß sich die behinderten BewohnerInnen einer Wohngemeinschaft nur mehr zu vom Gericht festgelegten Zeiten in ihrem Garten aufhalten dürfen. Dies erwirkte ein Nachbar, der wegen Lärmbelästigung geklagt hatte. Das Gericht meinte, daß "diese Lauteinwirkung" einen "Lästigkeitsfaktor" darstelle, der "die Nutzung seines Grundstückes so sehr beeinträchtige, daß sie unzumutbar ist". Dabei sei aber "weniger die Dauer und die Lautstärke als vielmehr die Art der Geräusche" ausschlaggebend - so die Urteilsbegründung.(randschau 1/98, S. 7)
Gesundheit wird idealisiert, Krankheit und Behinderung als Ausnahmezustand, zu bekämpfende Bedrohung betrachtet. Bay-Watch-Menschen sind schön, gesund , leistungsstark und gefügig. Behinderung gehört nicht zu ihrer Welt, es ist das Abseitige. Und schon gar nicht gehören Behinderte selbst zu dieser Welt. Sie werden in sonderpädagogischen Einrichtungen geschickt, durch strukturelle und bauliche Maßnahmen aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen. Ihnen wird der Zugang zum Arbeitsmarkt erschwert bis verunmöglicht - in Österreich kaufen sich die Hälfte aller Unternehmen von ihrer Pflicht, behinderte MitarbeiterInnen einzustellen, frei (Standard, 19.1.98) - oder sie werden in geschützten Werkstätten bei lächerlich geringem Lohn beschäftigt. Es ist auch allgemeiner Konsens, daß es Behinderung erst gar nicht geben dürfte. Dies ist der Ehrgeiz der VorsorgemedizinerInnen. Es wird versucht junge Paare zu veranlassen sich einer humangenetischen, sprich eugenischen Beratung zu unterziehen, oder mittels Pränataldiagnostik sollen etwaige Behinderungen bei Ungeborenen festgestellt werden, um dann die Schwangerschaft gegebenenfalls abzubrechen. Wird doch ein Kind mit Behinderung geboren, wird diesem immer öfter pflegerische und ärztliche Versorgung verweigert, das Neugeborene also getötet.
Menschen mit Behinderung werden stigmatisiert und als Negation der gewünschten Körper- und Verhaltensformen präsentiert und damit abgewertet. Um Körpernormen zu konstruieren und durchzusetzen, werden sie als Negativbeispiel mißbraucht.
Die Bay-Watch-Welt ist eine Halbe. Sie hat den Teil abgespalten, der Beeinträchtigung bedeuten könnte - Behinderung, Krankheit, Tod. Der Mensch mit Behinderung repräsentiert diesen geleugneten Teil der Welt, er macht dem Bay-Watch-Menschen klar, "daß er nur um den Preis von Unfall oder Selbstmord der Materialisierung dieser Lüge im Alter entgehen kann."(Riess, S. 57) Es wird nicht bemerkt, wie Behinderte beeinträchtigt und ausgegrenzt werden und wie sich Nicht-Behinderte stets selbst beschränken, in der Sorge auch ja der Norm zu genügen. Letzteres muß zwangsläufig, spätestens im Alter scheitern.
Die Gewalt beginnt mit dem selektiven Blick, dem Pannwitzblick (2) . Es ist der Blick der Ausgrenzung, der Herrschaft. Er sieht in der/dem Behinderten eine Belastung, setzt Behinderung mit Leid gleich. In den Worten Nati Radtkes: "Zuerst mal gibt es körperliche Schmerzen, wie Kopfweh... und dann gibt es eben noch diese seelischen Schmerzen, und das ist z.B. dieser Pannwitzblick - und das begreifen die Leute, glaube ich, gar nicht, daß sie dadurch Schmerzen auslösen, die sie mir unterstellen."(Sierck/Danquart, S. 126)
Udo Sierck knüpft daran an: "Der Pannwitzblick, der ist tatsächlich
immer da. Man kann ihn alltäglich spüren."(ebd., S. 127)
2) Primo Levi, ein ehemaliger KZ-Häftling, hat den KZ-Arzt Pannwitz beschrieben. In dessen Blick las er, als er ihm gegenüberstand, folgende Worte: "Dieses Dingsda vor mir gehört einer Spezies an, die auszurotten selbverständlich zweckmäßig ist. In diesem besonderen Fall gilt es, festzustellen, ob nicht ein verwertbarer Faktor in ihm vorhanden ist."(Sierck, Danquart S99) [zurück]
aus: TATblatt nr. +104 (16/98) vom 22. oktober 1998
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