TATblatt


 
Buchrezension:

Anarchie und Vorstadt

Wolfgang Maderthaner, Lutz Musner
Die Anarchie der Vorstadt
Das andere Wien um 1900
Campus Verlag, 1999
238 Seiten; öS 350,-
"Die Soldaten sind in Bereitschaft, die Thore der Häuser werden geschlossen, in den Wohnungen wird Proviant vorbereitet wie vor einer Belagerung, die Geschäfte sind verödet, auf allen Gemüthern lastet der Druck einer schweren Sorge. Das ist die Physiognomie unserer Stadt am Festtage der Arbeiter." 

(Neue Freie Presse, 1890)

"Wegen der bedeutenden Ansammlung dortselbst begab ich mich (...) in die Eugengasse, wo mich ein junger Mann nach meiner vom Trittbrette des offenen Wagens aus an die Menge gerichteten Aufforderung: "auseinader zu gehen", mit einem Regenschirm zweimal über den Kopf schlug, weshalb ich den Degen zog und ihn durch einen Hieb über die Brust mutmaßlich verletzte; er entkam, da ich nur von einem Dragoner begleitet war und dieser an der weiteren Verfolgung dadurch behindert war, daß er eine Frau niederritt." 

(Aus einem Polizeibericht anläßlich des Tramwaykutscher-Streiks, April 1888)

hobo

Als eine der allabendlichen Demonstrationen gegen die schwarz-blaue Regierung in deren ersten Woche vom Ballhausplatz in den 16. Wiener Gemeindebezirk, Ottakring, führte, dürfte nur wenigen TeilnehmerInnen bewusst gewesen sein, auf welch' historischen Boden sich sich dabei bewegten.

Denn: "Am 17. September 1911 erhob sich das Proletarierviertel Ottakring in einer Hungerrevolte. Dabei ging es nicht nur um Auszehrung und Nahrungsmangel, vielmehr artikulierte sich darüber ein erstes, breites Aufbegehren marginalisierter vorstädtischer Massen."

Spekulation hatte die Mieten in die Höhe getrieben, die Wohnverhältnisse waren schlecht und die Wohnungsnot groß. Lebensmittelteuerungen hatten die Situation zunehmend verschärft. So konnte am Simmeringer Lebensmittelmarkt der Geschäftsverkehr bald nur noch unter Polizeischutz abgewickelt werden, und in Zinskasernenvierteln war es immer wieder zu spontanen Kundgebungen gegen die Hausbesitzer gekommen. Oft musste die Polizei Warnschüsse abgeben, um die Krawalle zu beenden.

Für den 17. September 1911 schließlich war zu einer Demonstration unter sozialdemokratischer Regie aufgerufen worden. An die 100.000 Menschen sollen seit den frühen Morgenstunden aus den Außenbezirken vor Parlament und Rathaus gezogen sein, während die Innere Stadt aus Sicherheitsgründen von Polizei und Militär, von Ulanen, Husaren und Dragonern praktisch militärisch besetzt worden war.

Zu Mittag begann die Räumung des Rathausplatzes durch die Polizei. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Gros der Demonstration bereits aufgelöst, unter den mehreren Tausend Standhaften soll jedoch der Anteil von Halbwüchsigen aus Ottakring auffallend hoch gewesen sein. Ein erster Stein auf das Rathaus löste sodann die folgenden Krawalle aus. Kavallerie trieb die Massen vor sich her, und konnte doch der Situation lange Zeit nicht Herr werden. Dann wurden die Menschen durch die Lerchenfelderstraße und die Burggasse stadtauswärts getrieben.

Scheiben gehen zu Bruch, es kommt zu Plünderungen. In Ottakring erwartet die dahinstürmenden Menschen aber erst das (lt. Arbeiterzeitung) "Lumpenproletariat" -- in "Neu-Ottakring", das seit den 1890er Jahren nach dem Beispiel amerikanischer Reißbrettstädte aus dem Boden gestampft worden war, bricht die offene Revolte aus. Barrikaden werden errichtet, im Straßenkampf wird mit blanken Händen und allerlei Wurfgeschoßen (Polizeirat Emil Frömmel wird von einem Bügelleisen am Kopf getroffen) gegen Polizei und berittenes Militär gekämpft. Besonders hervorgetan sollen sich dabei neben der Straßenjugend Frauen und Mütter haben. Auffällig waren aber auch einige besonders bevorzugte Objekte der anarchischen Zerstörungswut: Straßenlaternen, Beschriftungen aller Art und Schulen waren neben Amtshaus und anderen Manifestationen staatlicher Macht der Revoltierenden liebste Opfer.

"Im Kontext urbaner Lebenswelten stellt sich die Differenz von Stadt und Vorstadt, von Zentrum und Peripherie nicht nur wirtschaftlich und politisch her, sondern vielmehr auch symbolisch und kulturell als ein Kampf um die Besetzung des Stadtkörpers mit Bedeutungen und Wertigkeiten. (...) Das Zentrum setzt dabei die Gewalt der Schrift, in der die  Zweckrationalität und Versachlichung der Moderne zu einem Instrument der Hegemonie verschmilzt, gegen die mündliche und traditionsgestützte populare Kultur der Vorstadt. Deren Widerstand beschränkt sich nicht nur auf das Territorium der Staße, also die ihr eigene Domäne, sondern sucht durch den Angriff auf die öffentlichen Manifestationen der Moderne deren Macht und Gewalt zu durchbrechen. Darin artikuliert sich, wie vage, grotesk, obskur und ambivalent auch immer, ein Angriff auf die symbolische Ordnung der Moderne. Die Zerstörung von Schriften und Schriftträgern scheint nicht nur eine Lust an der Destruktion von Dingen als solchen zu offenbaren, sondern vielmehr einen tiefen Unmut über jene neue gesellschaftliche Macht, die mit der Verschriftlichung der Vorstadt einhergeht, zu artikulieren", analysieren die Autoren Maderthaner/Musner in ihrem Buch Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900 die Gewaltexzesse des 'sinnlosen Vandalismus' von 1911, deren symbolischer Gehalt den meisten zeitgenössischen BeobachterInnen noch verschlossen geblieben war.

"In der scheinbaren Irrationalität ihrer Wut, in der Anarchie ihrer Gewalt, äußerte sich eine Logik, die der herrschenden Ordnung fremd ist und die sie nicht zu deuten vermag. Für die rebellierenden Akteure hat die Gewalt hingegen sehr wohl eine eigene Rationalität, da sie darin gleichermaßen ein Ventil für Aggressionen wie ein Moment der Befreiung und Freiheit finden", schließen die Autoren daraus, um damit das Tor zu einem weiten Feld von Stadtgeschichte aufzustoßen, auf dem der Begriff der Anarchie mehrere Bedeutungen erfährt.

Denn im Sinne von Maderthaner/Musner bezzeichnet der Begriff nicht nur den unorganisierten Ausbruch der Elendsbevölkerung in den Vorstädten, er steht auch für das Ausufern einer Stadt an ihren geographischen wie sozialen Rändern, das von Stadtplanern erst in ein nicht mehr Herrschaft gefährdendes Raster gebunden werden muss, und nicht zuletzt für den Alltag in diesen Vorstädten mit seinen sozialen und kulturellen Ausformungen. Zu diesen gehört neben dem Wohnungs- und Arbeitselend die Wirthauskultur, später die Kino- und Vergnügungswelt als Ersatz für die Unerträglickeit der Wirklichkeit, die Prostitution, der Alkohol und die Kriminalität wie das Zusammenrotten von Straßenbanden oder die Geschichte des Johann Breitwieser, des "Robin Hood" von Meidling, der als hochspezialisierter Einbrecher einen Teil seiner Beute an Arme verteilte.
 
 

Die Anarchie der Vorstadt ist somit keine Geschichte (organisierter) ArbeiterInnenaufstände, sondern vielmehr eine Geschichte der Stadt, die die Bedingungen beschreibt, durch die eine Massenbewegung erst entstehen konnte. Nicht diese jedoch wird in den Mittelpunkt gerückt, sondern jene Bereiche proletarischen Lebens, die auch ohne übergestülpter Organisation blühten und welkten. Beschrieben wird das Wachsen einer Stadt, in der der Gegensatz zwischen dem Zentrum und der Peripherie lebensbestimmend ist, und die erst den Anforderungen der Moderne und der industriellen Revolution angepasst werden musste, wobei "das soziale Elend in dieser Stadt hinter einer Fassade von beeindruckender Schönheit verborgen war und ist".

Somit richtet sich der Blick nicht nur auf die Architektur der Ringstraße und ihre herrschaftliche Funktion der Gründerzeit, im Mittelpunkt steht auch das Aufkommen von Massenkultur, die die "Dekompression" der in ihrem Elend "komprimierten" Menschen erlaubt, und der eine "Kultur der Widersetzlichkeit" innewohnt.

Insgesamt ein lehrreicher und lohnender Blick auf die andere Seite der Stadt - jenseits von Hofburg, Lippizanern und Jugendstil.

In Zeiten wie diesen ein Stadtführer der anderen Art.


aus: TATblatt nr. +135  (6/2000) vom 9. märz 2000
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