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Das Frauen-KZ Ravensbrück

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"Als der Graf Bernadotte und das schwedische Rote Kreuz unter Aufbietung aller Kräfte die Befreiung von mehreren Tausend weiblichen Häftlingen aus dem Lager Ravensbrück erwirkten, war der Krieg noch nicht zu Ende, befand sich die Ravensbrücker Gaskammer noch in Betrieb, und es war - ohne Wissen von Hitler - ein geheimes Handelsgeschäft im Gange, bei dem unsere Leben genau gewichtet als Anzahlungsrate in der Waagschale lagen. Natürlich wußten wir davon nichts, aber wir wußten, wir ahnten, daß wir wohl mit knapper Not überleben würden."

Germaine Tillion, Jahrgang 1907, ist Ethnologin und lebt heute in Paris. 1942 wurde sie als Mitglied der Résistance von der deutschen Besatzungsmacht verhaftet und in das Konzentrationslager Ravensbrück deportiert. Sie überlebte die Haftzeit und wurde nach der Befreiung Sprecherin der Lagergemeinschaft des einzigen Frauenkonzentrationslagers des Nazireichs. Darüber hinaus untersuchte sie das KZ-System im NS-Staat.

Die erste Ausgabe ihres Buches Ravensbrück erschien bereits 1946 und enthielt hauptsächlich Schilderungen von Häftlingen über das Erlittene. In eine zweite Ausgabe floss 1972 ein, was aus den Quellen der Angehörigen der SS und insbesondere der beiden Lagerkommandanten verwertbar schien, und in einem dritten Anlauf wurden inzwischen zugängliche Archive durchstöbert, um die Chronologie der Ereignisse zu überprüfen.

In einem dadurch reich gegliederten Buch beschreibt Tillion in einem ersten Abschnitt die Ereignisse von ihrer Verhaftung 1942 bis zur Befreiung im April des letzten Kriegsjahres. Darauf folgen Untersuchungen über das Personal des Konzentrationslagers, die zum Schluss kommen, dass auch in Ravensbrück nur "ganz normale Leute" ihr mörderisches Werk verrichteten, und das Schicksal verschiedener Gefangenengruppen in diversen Abteilungen und Blöcken des Lagers und seiner Nebenlager lenkten. Im Kapitel Profit und Vernichtung werden die wirtschaftlichen Verbindungen des KZ-Systems mit der deutschen Industrie aufgezeigt. Der grausame Alltag des Lagerlebens wird durch Schilderungen von Insassinnen und Zitaten aus Untersuchungsprotokollen offenbar.

In diesen Teilen liegen zweifellos die Stärken von Tillions Buch, das vom Verlag als Verbindung von Erfahrungsbericht, Dokumentation und wissenschaftlicher Reflexion beschrieben wird. Letztgenanntes leidet allerdings unweigerlich unter der sehr persönlichen Herangehensweise der Autorin, zumal die beiden Ansätze ungenügend getrennt werden und es so zu Unschärfen kommt, wo es wissenschaftlicher Exaktheit (samt handhabbaren Anmerkungsapparats) bedürfte.
Ein solcher Punkt wäre zum Beispiel die von Tillion vehement vorgebrachte These vom "Verrat" Himmlers an Hitler, der sich in den Konzentrationslagern in Form widersprüchlicher Befehle bemerkbar gemacht hätte. Himmler, nach Tillion "rassistischer als die rassistischsten Männer im Gefolge (des "'rassistischen' (Anführungszeichen im Original; Anm.) Meisters"), hätte Geld zur Verfügung bekommen, "dessen Herkunft im Dunkeln bleiben" musste. Mehr ist darüber nicht zu erfahren.
Mitunter liegt es an einer unglücklichen Wortwahl (einer misslungenen Übersetzung?), an manchen Punkten versteigt sich die Autorin aber in Gefilde, die offenbar nicht die ihren sind. Tillion noch einmal über Himmler: "Kann man ihm zugestehen, daß er Gewissensbisse hatte, daß er bereute? Ganz sicher, und so würden sich auch manche seiner plötzlichen Sinnesänderungen und die 'starken Leiden ohne erkennbaren Gründe dafür' erklären, die ihn in Wellen überfallen. Die erste dieser Wellen, überkommen aus Urzeiten, ist das Grauen aus dem Verbrechung einer Tötung ohne Kampf, ohne Provokation, ohne Zorn - Tag für Tag begangen an der menschlichen Bruderrasse und, schlimm er noch, an seiner kostbaren Saat, am unschuldigen kleinen Kind, dessen Schutz jedem Wesen eingepflanzt wurde, noch ehe es sich aus dem Tiersein emporentwickelt hat."
Hier scheint eine Ethnologin zweifelhafter Schule auf eine Überlebende des Holocaust zu treffen, die auf der Suche nach einem Sinn des von ihr Erlittenen sinniert: "Vielleicht hat er (Himmler; Anm.) letztlich sein Leben nicht geliebt." Dem Buch würde wahrscheinlich ein besserer Dienst erwiesen, würde es als eine sehr persönliche Verarbeitung der Autorin für sich und ihre Mitgefangenen stehengelassen. Als ein "Referenzwerk" mit "wissenschaftlicher Akribie" erstellt, so der Verlag, würde ich es mir jedoch nicht zu empfehlen trauen.
 
 
Germaine Tillion
Frauenkonzentrationslager Ravensbrück
Fischer Taschenbuch Verlag; 2001
ca. 400 Seiten; öS 174.-
 

aus TATblatt Nr. +165 vom 10. Mai 2001
 
 
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