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"Opfer der Opfer-These"

Der Beauftragte der österreichischen Regierung in Sachen Restitution, Ernst Sucharipa, wusste bei einem Referat vor einigen Tagen sein fundiertes Geschichtsbild vor einer illustren Zahl an HistorikerInnen darzulegen: Österreich sei zwar nicht das erste Opfer Nazi-Deutschlands, aber nichts desto trotz ein politisches Opfer – "Opfer der 'Opfer-These'" sozusagen, wie Sucharipa schwadronierte. Und eine weitere just jener schier unendlich langen Episoden in der staatstragenden Opfer-Geschichte dieses Landes bahnt sich dieser Tage mit dem zur Begutachtung vorliegendem Entwurf für eine neue Bundesarchivgutverordnung aus dem Bundeskanzleramt an.

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Der vorliegende Entwurf zeichnet sich doch ein weiteres Mal durch ein fullminantes Geschichtsverständnis österreichischer Behörden aus. Mittels einer Aufzählung von Archivgut, die in ihrer Explizitheit keinen Raum für Interpretationen zulässt, soll hier alles Schriftgut, das in der Verordnung nicht angeführt ist, nach dem Inkrafttreten mit 1. Jänner 2002 vernichtet – auf Amtsdeutsch "skartiert" - werden. Von der Vernichtung betroffen wäre nicht nur laufend anfallendes Schriftgut, sondern ausdrücklich auch historisches, heute im Besitz des Bundes befindliches. Aufbewahrenswert sind laut Entwurf vor allem Akten der Zentralstellen des Bundes sowie Schriftgut über "Personen des öffentlichen Lebens", sowie - per Kanzlers Gnaden - jegliches Archivmaterial das bis zum Stichtag 1. November 1955 angefallen ist. Die Begründung dafür fällt so plump aus, wie sich diese Regierung wohl Geschichtsschreibung auch unzweifelhaft vorstellen dürfte: alles Schriftgut bis zur Erlangung der vollen Souveränität Österreichs ist grundsätzlich schutzwürdig. Eine Bestimmung die in jedem zivilisierten Land so befremdlich erscheinen müsste, dass sie den Verdacht einer bösen Absicht gar nicht erst aufkommen ließe.

Anders aber in Österreich. Stammen doch die wichtigsten Aktenbestände zur NS-Zeit aus der Zeit nach diesem Stichtag: jene der diversesten Restitutionsgesetze bzw. Kriegs- und Verfolgungssachschädengesetz. Diese Aktenbestände enthalten oft die einzigen Hinweise, aus denen ganze ForscherInnenteams, in erster Linie die von der Regierung mittels HistorikerInnenkommission selbst eingesetzten, derzeit in mühsamer Kleinarbeit rekonstruieren, welches Eigentum den verfolgten Familien und Einzelpersonen entzogen wurde, ob und wohin sie emigriert sind, wer die ErbInnen sein könnten. Darüber hinaus enthalten sie Material, das mit unter lange vor dem Zeitpunkt der Anlage eines Aktes angefallen ist – darunter eben auch zahlloses Schriftgut aus der NS-Zeit. Historische "Details am Rande", die zwar die nationale Geschichtsschreibung durchaus unangenehm bis peinlich berühren, die aber mitunter wesentlich dazu beitragen könnten "Entschädigungs"ansprüche, die zum Teil nun nach fast 60 Jahren erstmals rechtlich gedeckt worden sind, von Überlebenden NS-Österreichs und deren Nachkommen zu stützen. Dass die Akten neben diesen, für eine konservativ-rechtsextreme Regierung wohl recht profanen Interessen, nebenbei auch einen unendlich hohen persönlichen Wert für Überlebende und Nachkommen selbiger, den eigentlichen "Opfern der Opfer-These" also, haben könnte, sei hier nur am Rande erwähnt.

Die Knappheit der Lagerkapazitäten und damit zu hohe Kosten, die als offizielle Begründung für die geplante "Selektion" herhalten müssen, dürften jedenfalls nicht ausschlaggebend sein. Dieser Argumentation widerspricht zumindest der Generaldirektor des Staatsarchivs energisch. Der erschreckende Verdacht, bei der Archivierung solle manipulativ eingegriffen werden, scheint daher durchaus berechtigt, soll hier Geschichte wohl im Hinblick auf größere Zusammenhänge, ein zu formierendes nationales Geschichtsbild, redigiert werden.

aus TATblatt Nr. +176 vom 2. November 2001

 
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