TATblatt


Euthanasie

NS-Arzt Gross ist ein "Mörder"

Was die hochoffizielle Politik jahrzehntelang nicht annähernd zur Kenntnis nehmen wollte, wurde nun aus dem Mund des Gesundheitsstadtrats von Wien, Sepp Rieder, plötzlich zitierbare Allgemeinweisheit: daß es sich bei dem bis 1997 für das Landesgericht für Strafsachen in Wien tätigen Gutachter und früheren NS-Euthanasiearzt Heinrich Gross um einen Mörder handelt. Nicht nur diese überraschende Kehrtwende in der behördlichen Politik gegenüber den NS-Euthanasieverbrechen kennzeichnete ein Symposium im Krankenhaus der Stadt Wien auf der Baumgartner Höhe.

div. Zeitungen, TATblatt
Die zitierten Äußerungen von Stadtrat Rieder waren sozusagen Auftakt zu einer Veranstaltung der Psychiatrischen Anstalt Baumgartner Höhe Ende Jänner unter Ehrenschutz des Bundeskanzlers, des Gesundheitsstadtrates und des Wiener Bürgermeisters "Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien".

Nachdem die Staatsanwaltschaft Wien etwa 45 Jahre lang Anklagen gegen Gross niedergeschlagen hatte, mußte der zuständige Staatsanwalt Georg Karesch auf direkte Weisung des Justizministers Mitte Jänner 1998 die Erhebungen wegen des Verdachtes auf Mord aktenkundig einleiten. Zuvor hatte der Generalanwalt im Justizministerium, Christoph Mayerhofer, den Leiter der Staatsanwaltschaft Wien, Adolf Korsche, und den ermittelnden Staatsanwalt Karesch in Ministerium zitiert und ihnen dort die Rechtsansicht des Ministers, daß es sich um den Verdacht des Mordes und nicht des Totschlags handle, kundgetan. So widerwillig, wie die Staatsanwaltschaft bisher handelte, hatte sie noch einen weiteren Trick zur Verschleppung auf Lager: über jeden einzelnen Fall, an dem Gross beteiligt war, forderte sie ein Gutachten an, und erst nach Vorliegen des Gutachtens soll Gross befragt werden. Die Hoffnung, daß der jetzt 83-jährige Gross dann endlich im Sarg liegt und nicht mehr befragt werden kann, oder endlich für verhandlungsunfähig erklärt werden kann (was bei einem bis vor kurzem aktiven Gerichtspsychiater etwas schwierig ist), ist diesem erneuten Manöver anzumerken.

Politisch war jedoch schon vor dem Symposium durch den hohen Erwartungsdruck aus Deutschland und den USA der Zug in eine andere Richtung unterwegs. Rieder sprach schon Tage zuvor von der Rolle der Psychiatrie in der NS-Zeit, daß der Wiener Psychiatrie "eine besonders abstoßende Rolle zugekommen" sei, und von der Verachtungswürdigkeit der Vergangenheitsbewältigung der österreichischen Behörden nach 1945. Eine zentrale Rolle habe damals in Wien Gross gespielt: "Wenn man es verkürzt zusammenfaßt, ist Gross ein Mörder ... In der Person des Primarius Gross, der Arzt an der Klinik war, hat dieses Kapitel der Nichtbewältigung und des Vergrängens bis zum heutigen Tag auch Namen - und bis vor einem halben Jahr noch Adresse", so Rieder. Oft sei es laut Rieder nicht darum gegangen, die Taten aufzuklären, sondern zu vertuschen, und Gross durfte noch bis vor einem halben Jahr auf der Baumgartner Höhe wohnen, ehe er - ebenfalls laut Rieder - auf massive Intervention des Stadtrats ausziehen mußte. Gerade diese Ausführungen Rieders bestätigen bisherige Ausführungen im TATblatt, daß es der Leiter der Baumgartner Höhe, Gabriel, bisher eher mit Gross als mit den Angehörigen der Opfer hielt.
 

Die Veranstaltung

Vor der Veranstaltung war eher schlimmes zu befürchten, nämlich daß hier eine Show für das Ausland abgehalten, während in Österreich selbst die Sache im Abgeschiedenen abgehandelt würde. Die Vorbereitungen deuteten stark in diese Richtung, nämlich die bemerkenswerte Nichtankündigung in österreichischen Medien. Angekündigt wurde die Eröffnungspressekonferenz auch nicht wie gewöhnlich, sondern über den Verband der Auslandspresse in Wien, der außer VertreterInnen ausländischer Medien kaum jemand erreicht. Bei ebendieser Gelegenheit polterte Rieder imagepolierend gegen Gross. Das Symposium selbst wurde von hochrangigen zu Medizin und NS-Euthanasie arbeitenden ausländischen WissenschaftlerInnen besucht, während (eine kleine Panne muß immer sein) die "betroffenen ZeitzeugInnen" in der ersten Ankündigung nicht namentlich genannt wurden.

Trotz dieses vorerst etwas seltsamen Eindrucks wurde in der Veranstaltung selbst die Geschichte bzw. deren AkteurInnen vorbehaltslos aufgedeckt. TeilnehmerInnen konnten auch den angeblichen "Gedenkraum" für die Gehirne der ermordeten Kinder, wo in Wirklichkeit die Gläser in einer engen Rumpelkammer auf Holzregalen herumstehen, und die wegen verrutschter Deckel der Gläser penetrant nach Formaldehyd stinkt, besichtigen. Informell wurde auch davon gesprochen, daß es auf der Baumgartner Höhe auf dem Gelände zwei Hügel geben soll, die in Wirklichkeit Gräber von Euthanasieopfern sind.

Damit auch die nichtgeladene Allgemeinheit sich informieren konnte, wurden zwei Tage lang Dokumente - wie Transportlisten, Aufnahme- und Abgangsbücher, Briefe usw. - im Original ausgestellt, sowie Anmerkungen zur Geschichte der Anstalt. Diese Offenheit, daß Originaldokumente, die eindeutige Beweise für die Ermordung von in der Anstalt angehaltenen Personen darstellen, ohne bürokratische Schikanen gezeigt wurden, markiert wohl den eindeutigen Wendepunkt in der ganzen Affäre. In weiterer Folge besteht seitens der Baumgartner Höhe die Absicht, die Namen der Verstorbenen und Abtransportierten EDV-mäßig zu erfassen, um insbesondere bezüglich der Weiterverschickten (zB nach Ybbs oder Mauer-Öhling) mehr oder überhaupt etwas über deren weiteres Schicksal zu erfahren.
 

Die Folgen für Gross

Im Zuge des Symposiums wurde nicht nur über die Vorgänge in Wien und über die Opfer dort, sondern auch über die NS-Medizin überhaupt aufgearbeitet und im Zuge dessen die Medizinische Fakultät der Universität Wien (eine NS-Hochburg), die Tötungsanstalt Niedernhart (jetzt Wagner-Jauregg-Krankenhaus) in Linz und auch die SS-Ärzteakademie in Graz ausführlich gewürdigt.

In der Sache Gross selbst tat sich außerordentliches: numehr wurden die Krankengeschichten der ermordeten Kinder beschlagnahmt; nicht durch die Staatsanwaltschaft (diese ließ nur die Gehirne beschlagnahmen), sondern durch das Landesgericht für Strafsachen in Wien. Der Tatverdacht laut LG lautet nun "in der Zeit von 1940 bis 1945 in Ausübung seiner ärztlichen Tätigkeit in der Städtischen Nervenklinik Anstaltsinsassen getötet zu haben".

Unabhängig davon, ob nun Gross "rechtzeitig" vor seinem Prozeß stirbt, wird seine Person dafür sorgen, daß die Diskussion um die NS-Euthanasie in Österreich nicht mehr verstummen wird. Mit dem Durchbruch in Wien wird es auch für die anderen Tötungsanstalten zunehmend unhaltbar sein, ihre Geschichte hinter hundertjährigen Archivsperren zu verschanzen.

[siehe dazu auch unsere Berichte in TATblatt +79, +82, +85 und +87]


aus: TATblatt Nr. +92 (4/98) vom 26. Februar 1998
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