TATblatt    

 

Das Strafgesetzbuch als Handlungsanleitung für die Polizei:
Landfriedensbruch

Im Zuge der Auseinandersetzungen um den Opernball wurde eine große Zahl von Personen wegen so genannten Landfriedensbruchs angezeigt. Der entsprechende Paragraf des Strafgesetzbuchs wurde in den vergangenen Jahren zwar des Öfteren zur Rechtfertigung von Festnahmen auf Demonstrationen "genutzt", entsprechende Verurteilungen gibt es jedoch sehr wenig. Auffällig in diesem Zusammenhang ist, dass selbst die über Internet einsehbare Judikatursammlung des Obersten Gerichtshofs keine Texte enthält, die sich unmittelbar mit dem § 274 StGB beschäftigen. Verurteilungen wegen Landfriedensbruch trafen in jüngerer Vergangenheit etwa Fußballfans nach Auseinandersetzungen in Graz im Jahre 1997.

 

§ 274 StGB Landfriedensbruch

(1) Wer wissentlich an einer Zusammenrottung einer Menschenmenge teilnimmt, die darauf abzielt, daß unter ihrem Einfluß ein Mord (§ 75), ein Totschlag (§ 76), eine Körperverletzung (§§ 83 bis 87) oder eine schwere Sachbeschädigung (§ 126) begangen werde, ist, wenn es zu einer solchen Gewalttat gekommen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu bestrafen.

(2) Wer an der Zusammenrottung führend teilnimmt oder als Teilnehmer eine der im Abs. 1 angeführten strafbaren Handlungen ausführt oder zu ihrer Ausführung beigetragen hat (§ 12), ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren zu bestrafen.

(3) Nach Abs. 1 ist nicht zu bestrafen, wer sich freiwillig aus der Zusammenrottung zurückzieht oder ernstlich zurückzuziehen sucht, bevor sie zu einer Gewaltanwendung geführt hat, es sei denn, daß er an der Zusammenrottung führend teilgenommen hat.

 

Strafbar nach § 274 StGB ist eine Person, die wissentlich an der Zusammenrottung einer Menschenmenge teilnimmt, die auf die Begehung der genannten Straftaten abzielt, sofern es tatsächlich zu einer solchen Straftat kommt. Als tatbildlich in diesem Sinne ist also nicht nur die direkte Teilnahme an Mord, Totschlag, Körperverletzung oder schwerer Sachbeschädigung anzusehen, sondern bereits die Teilnahme an der Zusammenrottung, aus der heraus Straftaten begangen werden (die begangene schwere Straftat an sich wird dem jeweiligen Paragrafen des StGB zuzüglich zum Landfriedensbruch zu verfolgen).

Obwohl der Paragraf § 274 auf ersten Blick als sehr umfassender Paragraf erscheint, sind seiner Anwendung in der Praxis sehr enge Grenzen gesteckt:

Als Zusammenrottung ist nicht einfach jede beliebige Menschengruppe anzusehen, sondern eine große Menschenmenge, die sich über einen längeren Zeitraum hinweg durch weggehende bzw. hinzukommende Personen zahlenmäßig nicht wesentlich reduziert. Nicht als groß anzusehen wird in der Regel eine Gruppe von weniger als 100 Personen sein.

In Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage führte der sich zurzeit als Justizminister gerierende Rechtsvertreter des einfachsten Parteimitglieds aller Zeiten, Böhmdorfer, im Jahr 2000 dazu aus: "Unter Zusammenrottung ist nicht schon jede Vereinigung mehrerer oder auch vieler Menschen zu verstehen, sondern nur eine solche Vereinigung, die die alsbaldige Verwirklichung eines gesetzwidrigen Ziels bezweckt; erst dies macht aus einer Ansammlung, Versammlung oder einem Umzug eine Zusammenrottung. Zusammenrotten ist also immer das räumliche Zusammentreten zu einem gemeinschaftlichen, erkennbar gesetzwidrigen bedrohlichen oder gewalttätigen Handeln. (...) Menschenmenge ist eine große, unbestimmte Anzahl von Menschen, die nicht mehr überblickt werden kann, die also jedenfalls so groß ist, dass der Einzelne darin nicht mehr im Stande ist, mit jedem anderen Einzelnen in unmittelbare Kommunikation zu treten, und es gleichgültig ist, ob ein Einzelner weggeht oder hinzutritt. Entscheidend ist der äußere Eindruck zahlenmäßiger Unbestimmtheit."

Strafbar nach § 274 ist jedoch ausschließlich die Teilnahme an der Zusammenrottung. Nicht strafbar ist, wer sich ernstlich, jedoch möglicherweise ohne Erfolg aus der Zusammenrottung zurückzuziehen gesucht hat (weil er/sie in der Menschenmenge eingekeilt war), wer aus bloßer Neugier beobachtend in der Nähe stand, wer der Menge entgegentritt oder bloß Hilfe leisten wollte.

Bei isolierten Exzessen einzelner aus einer im Übrigen friedlichen Menschenmenge kann nicht davon gesprochen werden, dass unter dem Einfluss der Menschenmenge strafbare Handlungen begangen werden.

Strafbar hingegen ist wiederum, wer sein Heil in der Flucht sucht, weil er/sie zum Schluss gekommen ist, dass die ursprünglichen Absichten nicht umsetzbar seien.

Das Verhalten der Polizei am 22. Februar ist daher deutlich in Zusammenhang mit dem in § 274 StGB beschriebenen Tatbild zu bewerten: Die medial verbreitete Zahl von hundert GewalttäterInnen unter achthundert friedlichen DemonstrantInnen entstammt ganz offensichtlich dem Strafgesetzbuch, und damit nicht zwangsläufig der Realität. Darüber hinaus bietet das Strafgesetzbuch auch eine Erklärung für die Tatsache, dass auch Personen in einer Entfernung von mehreren Kilometern vom eigentlichen Sperrgebiet festgenommen wurden. Zur Konstruktion eines Landfriedensbruchs war es notwendig, lange Fluchtwege zu konstruieren, um den DemonstrationsteilnehmerInnen die Chance zu nehmen, sich freiwillig zurückzuziehen.

Die Vornahme von Festnahmen auf Grund des Verdachts eines Verstoßes gegen § 274 StGB stellt, und das beweist das Fehlen höchstgerichtlicher Judikatur sehr eindringlich, insbesondere die Polizei vor Probleme: Sie muss beweisen, dass sie sich einer großen, unüberschaubaren Menschenmenge gegenüber sah, aus der heraus wiederholt Straftaten begangen wurden. Dies ist der Polizei in Zusammenhang mit Demonstrationen bisher nicht gelungen, und es gibt sehr deutliche Hinweise darauf, dass es ihr auch im Fall der Opernballdemonstration vom 22. Februar 2001 nicht gelingen wird (weil es - trotz der an diesem Abend in nicht geringer Zahl begangen strafbaren Handlungen - schlicht und einfach nicht um eine Situation handelte, die dem in § 274 StGB als Voraussetzung einer Bestrafung geforderten Bild nahe kommt).

Materialien:
Foregger-Serini, StGB und wichtige Nebengesetze, Wien 1991, S. 599-601
Lewisch, Haftungsfragen um gewaltsame Demonstrationen, Österreichisches Anwaltsblatt, Wien 1990, S. 685
Parlamentarische Materialien (XXI. GP): Anfragebeantwortung 475 AB zu Anfrage 484/J, einsehbar unter http://parla8.parlinkom.gv.at/pd/pm/XXI/J/his/004/J00484_.html

aus TATblatt Nr. +161 vom 1. März 2001:
  Ergänzendendes:


Opernball-Donnerstagsdemo 2001

Demobericht aus der TATblatt-WiderstandsChronologie
Protokolle einer Amtshandlung AugenzeugInnen und Betroffene berichten
§274 Landfriedensbruch Das Strafgesetz als Handlungsanleitung für die Polizei
Jetzt auch in Wien: Zero Tolerance
Restauration Rot-Schwarz in Aktion
Aussendung der Rechtshilfe zur Opernball-Donnerstagsdemo vom 22.2.
Aktuelles von Gefangenen und Verfahren

Polizei stürmt EKH

Anklopfen nach WEGA-Art Bericht aus dem EKH
Offener Brief aus dem EKH An SW-General Schnabl
Stellungnahme Hausdurchsuchung in TATblatt-Redaktion

 




Anmerkungen zur Opernballdemo
LeserInnen-Kommentar (aus TATblatt Nr. +162)


Protestnote

von Eltern, Angehörigen und FreundInnen der bei der Opernball-Donnerstagsdemo vom 22. Februar Festgenommenen

 

aus TATblatt Nr. +161 vom 1. März 2001

>> TATblatt-Inhaltsverzeichnis
>> WiderstandsChronologie (Wien)

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